„Ich habe einen Namen“ – Interkulturelle Tage in Werben
Ein Resümee von Ingrid Bahß:
„Fremd ist nur derjenige, bei dem man nicht die Chance hatte, ihn kennenzulernen“ (Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin von Nordrhein Westfalen“
Mit Ausstellungen in der Salzkirche, der Fabianstraße 7, Lesungen, einer Filmdokumentation, einer internationalen Musiksession im „Elbstübchen“, einem Mitbringessen im Kommandeurhaus, einem Gottesdienst ist es gelungen, darauf aufmerksam zu machen, daß die geflüchteten Menschen mit einem eigenen Namen, eigenen Ängsten, Hoffnungen, Träumen und auch einem Potential an Wissen und Können zu uns kommen. Wir haben den Raum für ein Miteinander von geflüchteten Menschen mit Leuten verschiedener Generationen, sozialer Schichten, politischer Haltungen geöffnet.
Wir haben uns für die Fremden interessiert und mitbekommen, daß uns mehr verbindet, als wir immer dachten.
Unser Programm war so nah am Menschen und an der aktuellen politischen Situation, daß wir die Hoffnung haben, daß Denkanstöße möglich sind.
Ein Kind bringt es auf den Punkt, als es auf die Frage „Sind bei euch viele Flüchtlinge im Kindergarten?“ antwortet:
„Nein, bei uns sind nur Kinder.“
Lesen Sie auch hier die Eröffnungsrede von Ingrid Bahß (Projektentwicklung und – Leitung):
Geschichte und Notwendigkeit der Interkulturellen Tage in Werben
„Wir kennen das doch alle, sich heimatlos, fremd, einsam zu fühlen. Angewiesen zu sein auf Offenheit, freundliche Worte, wohlmeinende Blicke. Selbst im Urlaub, wenn uns die Sprache fehlt, obwohl wir doch wissen, daß es in 10 Tagen wieder in die vertraue Heimat geht…
In solchen Situationen haben wir eine ganz kleine Ahnung, wie es den geflüchteten Menschen gehen mag.
Doch eine nur sehr kleine…
Heimatlose müssen blind vertrauen, sind abhängig, voller Ängste und scheuer Blicke – und das auf unbestimmte Zeit.
Und immer wieder die Angst vor der Antwort auf die Frage:
„Bin ich willkommen oder werde ich verflucht…“
Als ich gefragt wurde, warum ich in Werben auf die Situation der geflüchteten Menschen aufmerksam machen möchte, aufmerksam darauf, daß jeder geflüchtete Mensch mit einem eigenen Namen, einem eigenen Lebenslauf, einer eigenen Kindheit, Träumen, Hoffnungen und Ängsten zu kommt, habe ich darüber gesprochen, daß ich im vergangenen Jahr in eine fast unerträgliche Unruhe und Hilflosigkeit gekommen bin. Das Schicksal der geflüchteten Menschen hat mich nicht mehr zur Ruhe kommen lassen.
Seit Monaten werden wir durch die Presse, das Fernsehen … auf die Situation geflüchteter Menschen aufmerksam gemacht.
Alte, junge Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, welch eine Not, welch eine Demütigung..
Namenlose…
Doch oft ist an die Stelle des Mitfühlens Unsicherheit, Ablehnung, Angst, Fremdheit …getreten.
Stellen sie sich vor, Sie wären umgeben von einem babylonischen Sprachengewirr. Sie verstehen nichts und versuchen unter freundlichen Tönen und harten abweissenden zu sortieren. Diesem Sprachengewirr sind Sie in ausgeliefert. Ganz und gar.
Dazu die Einsamkeit, das Heimweh…
Auf der einen Seite das Bemühen vieler Menschen, zu helfen.
Gleichzeitig sind die Fluchtwege zunehmend mit Stacheldraht, Mauern, Wachen verbarrikadiert.
Die Bedingungen verschärfen sich, meine Hilflosigkeit wächst.
Wie kann ich Verantwortung übernehmen, aufmerksam machen…
Es wurde mir immer mehr ein Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, daß jeder Mensch in diesen anonymen Flüchtlingsströmen mit einem eigenen Lebensschicksal, eigenen Träumen, großen Ängsten und mit viel Hoffnung zu uns kommt. Daß jeder ein Einzelschicksal hat, genau wie wir.
In dieser Zeit kamen Erinnerungen aus Kindheitstagen in einer unerhörten Klarheit und Kraft in mir hoch.
Immer ging es um Heimatlosigkeit, um Flucht, um Ankommen, um Fremdheit.
Erinnerungen an meine Kindheit, als die Umsiedler, die Vertriebenen nach Werben kamen.
Erinnern Sie sich?
Sie kamen mit Nichts bei uns an.
Sie blieben, fügten sich ein… Wurden auf dem Hof meines Vaters als Knechte und auf dem Feld unentbehrlich. Doch sie blieben Jahr um Jahr die Fremden.
Otto Röxe, Hannes Zucht und Clara Wolter, Frau Schwarz mit Sohn Helmut, bei denen ich das Klöppeln zum ersten Mal gesehen hatte– meine ganze kindliche Zuneigung galt diesen Entwurzelten.
Sie brachten den katholischen Glauben in unsere protestantische Gegend.
Heimatlose mit einer fremden Religion, einem fremden Dialekt …
Eine späte Hommage an Menschen, zu denen ich mich hingezogen fühlte.
Und ich dachte an die jungen russischen Soldaten, wie sie in meiner Kindheit bei den Manövern frierend und hungrig an der Wegkreuzung standen- heimatlos.
Sie waren weggerissen aus ihrem Land. Wenn es ein Soldat vor Heimweh nicht mehr ausgehalten hat und vor Verzweiflung desertierte, wurde er erschossen.
Diesen Erinnerungen bin ich auf meinen Rußlandreisen gefolgt.
Wir Kinder brachten den Soldaten etwas zu essen.
Als wir 1983 das Land verlassen mußten, haben wir zum ersten Mal am eigenen Leibe gespürt, wie es sich anfühlt, keinen Namen, keine Bedeutung, große Ängste, Sorgen um die Kinder … zu haben…
Wie man sich fühlt, wenn man als Bewohner eines Flüchtlingsheimes vergeblich einen Job, eine Wohnung sucht…
Dabei hatten wir nicht einmal ein Sprachproblem und wir fielen im Kölner Straßenbild kaum auf…
Heimatlosigkeit, Ängste… Ausgeliefertsein…Fremde…
Das alte rumänische Ehepaar in unserem Asylantenheim in der Vorgebirgsstraße 22 in Köln.
Die gute alte Frau hilft ihrem Mann beim Anziehen. Sie rückt ihm den Kragen zurecht.
Voller zärtlicher Handgriffe.
Sie kamen aus der Heimatlosigkeit und glaubten daran, endlich anzukommen in der deutschen Heimat.
Doch sie täuschen sich, bleiben die Fremden. Niemand hat sie willkommen geheißen…
Der alte Dialekt wird sie bis zum Lebensende verraten, als Fremde erkennbar machen.
Sie werden bis zum Lebensende zwischen zwei Stühlen sitzen, so wie es ihnen auch in Rumänien ergangen ist.
Kemal Kurt sagt es so:
„In der Fremde hat man eine dünne Haut und ein gläsernes Herz.
Jedes Wort ist ein Pfeil, der aufs Herz zielt.
In der Fremde ist der gesamte Körper eine Achillesferse und jeder Blick ein Schuß, der sitzt.
In der Ferne zehrt man Tag für Tag von seinen Ängsten und lernt den Tod im Leben kennen.“
Heimatlos, entwurzelt sind auch die Menschen, denen ich mich als Fotografin immer wieder gewidmet habe, die Obdachlosen.
Einer meiner besten Freunde, Horst Kinietz, gehört zu ihnen.
Dort setzt mein Engagement für die geflüchteten, die entwurzelten Menschen an.
Meine Solidarität galt von jeher den Heimatlosen, den Namenlosen…
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ihnen mit meinen Mitteln einen Namen zu geben, darauf aufmerksam zu machen, daß sie wie jeder von uns ein eigenes Lebensschicksal haben.
Wir haben diesem Schicksal Respekt zu zollen.
Träume, Hoffnungen und große Ängste verbinden uns doch alle.
Meinen Sie nicht auch? Wir kennen das doch alle…
Egal, wo wir geboren sind, egal welcher Religion wir sind, die Sehnsucht nach Frieden, Spaß am Leben, Gesundheit, Geborgenheit in der Familie und unter Freunden verbindet uns.
Die geflüchteten Menschen sind uns näher als wir immer vermuten und wir tragen Verantwortung füreinander.
Das kindliche Mitleid stand am Anfang.
Nun übernehme ich mit meinen Mitteln Verantwortung und mache gemeinsam mit den beteiligten Freunden aufmerksam auf das Schicksal der geflüchteten Menschen.
Und bin nicht allein die Gebende – nein! Ich habe im Verlauf der letzten Zeit soviele interessante Menschen aus dem Irak, aus Syrien, aus Tansania, aus Togo, aus dem Iran, aus dem Jemen…daraus sind Freundschaften auf gleicher Augenhöhe entstanden. Ich bin auch die Nehmende und die Beschenkte.
Doch dieses Mal bleibt es nicht beim Mitleiden. Empörung gesellt sich dazu.
Wer verdient am Leid der Flüchtlinge, an den nicht endenwollenden Kriegen? Wer trägt seine Gewinnsucht auf dem Rücken der einfachen Menschen aus?
Täglich erleben wir Kälte, Mißtrauen, Fremdheit gegenüber den Entwurzelten.
Und das, obwohl wir uns noch garnicht wirklich kennengelernt haben. Was wissen wir voneinander…
Und trotzdem habe ich die Hoffnung, daß sich die Menschen in unserem Land, egal ob Deutsche, geflüchtete Menschen, egal, welchen kulturellen und religiösen Hintergrund diese Menschen haben, sich füreinander interessieren, den anderen als Bereicherung betrachten und sich helfen, wenn es nötig ist.
Und ich bin nicht allein mit diesem Versuch, etwas in den Herzen und im Verstand zu bewirken, verändertes Denken anzuregen. Alle Freunde, die an diesem Vorhaben beteiligt sind und ihre Stimme zu Wort kommen lassen, stehen an meiner Seite.
Gemeinsam machen wir darauf aufmerksam, daß jeder geflüchtete Mensch mit einem eigenen Lebensschicksal, einer Familie, die ihn liebt und die er verlassen mußte, eigenen Hoffnungen, Ängsten und Träumen zu uns kommt.
„Fremd ist uns nur derjenige, bei dem man nicht die Chance hatte, ihn kennenzulernen“ sagt die Ministerpräsidentin von Nordrhein Westfalen.
Kinder sind in der Lage mit einfachen Worten das Wesentliche zu sagen:
Ein Kind antwortet auf die Frage „Sind denn viele Flüchtlinge im Kindergarten?“ „Nein bei uns sind nur Kinder.“
Ich danke in diesem Sinne allen, die mich unterstützt haben und dazu beigetragen haben, daß die Interkulturellen Tage in Werben möglich sind. Dazu gehören Mutmacher, Helfer bei praktischen Problemen und meine Freunde, die die Tage durch ihre finanzielle Unterstützung überhaupt möglich machen.
Zu Dank verpflichtet bin ich der Rosa Luxemburg Stiftung Sachsen Anhalt, den Stadtwerken Stendal und der Stadt Werben, dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“
Unser Freund Matthias kann nicht hier sein.
Ich weiß, daß er im Juli gemeinsam mit einem Team hunderten von Bootsflüchtlingen, Kindern, Frauen, Männern… das Leben gerettet hat.
Wie wunderbar! Ein Werbener! Das macht mich sehr stolz, solch` einen Freund zu haben, der aus meinem Ort kommt.“
Fotos: Dietrich Bahß, Werner Eifrig, Holger Schaffranke
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